Village People

Der Architekt Myron Toupoyannis hat das von seinen Bewohnern verlassene Dorf Kapsaliana auf Kreta behutsam in ein kleines Hotel verwandelt. Einige Urlauber suchen dort nur Ruhe, andere das (vermeintlich) echte Griechenland.

Schon die Anfahrt vermittelt das gute Gefühl, alles richtig gemacht zu haben: Die Erinnerungen an die Bettenburgen zwischen Iraklio und Réthymno verblassen, kaum dass man die Küstenstraße verlassen hat. Durch Olivenhaine geht es kurvenreich ins hügelige Hinterland. Wegweiser gibt es, wenn überhaupt, nur noch in griechischer Schrift. Erst kurz vor dem Ziel übernehmen kleine Schilder mit der Aufschrift „Kapsaliana Village Hotel“ die Navigation. Eine repräsentative Einfahrt gibt es nicht, die Rezeption findet man in einem alten Steinhaus. Es ist früher Nachmittag – das „Dorf“ und seine Bewohner halten Siesta auf Griechisch.

Bei einem ersten Rundgang

… wärmen sich die Augen an erdigen Farben. An gepflegten Gärten, in denen der Rosmarin meterhoch wächst und es nach Thymian duftet. An reifen Zitronen und Orangen, die von den Bäumen in den schmalen Gässchen baumeln. Die Häuser stehen nicht isoliert, sondern sind über Mauern miteinander verbunden, wie es in kretischen Dörfern Tradition ist. Zwischen den Gebäuden sind alte Werkzeuge und große Olivenöl-Amphoren wie wertvolle Exponate ausgestellt. Alles ist sehr sauber und sehr gepflegt. Vielleicht einen Tick zu steril. Erinnerungen an Ausflüge ins Bauernhofmuseum werden wach. Ein deutscher Gast formuliert es drastischer: „So schön könnte Griechenland sein, wenn wir hier das Sagen hätten.“

Nun, erstens sind die Griechen

… ohnehin der Meinung, dass die deutschen Sparkommissare im Land das Sagen haben. Und zweitens ist der neue „Dorf-Herr“ Myron Toupoyannis Gentleman genug, um solche Kommentare geflissentlich zu überhören. Der charismatische Architekt mit dem schlohweißen Haar und den buschigen Augenbrauen wohnt selbst ganzjährig in einem der alten Häuser. Kapsaliana ist zu seinem Lebenswerk geworden.

Die Geschichte des Weilers

… beginnt 1763, als inmitten eines Olivenhains in der Nähe einer kleinen Kapelle eine Ölmühle gebaut wird. Um die Mühle herum entstehen Häuser für die Erntehelfer. Das Land gehört dem nur vier Kilometer entfernten Kloster Arkádi, das 1866 beim Aufstand der Kreter gegen die türkischen Besatzer zu Weltruhm gelangte. Damals sprengten sich fast 1.000 eingekesselte Kreter im Pulvermagazin in die Luft. Sie wollten sich den vorrückenden Osmanen nicht ergeben. Der Fall des Klosters erregte international Aufsehen, sogar Giuseppe Garibaldi und Victor Hugo applaudierten den tapferen Kretern.

Um 1950 entstanden an der Küste dann die ersten motorbetriebenen Ölmühlen.

Die Mönche von Arkádi gaben Kapsaliana auf.

Die Landarbeiter zogen weg, das Dorf verwaiste. Als Toupoyannis, der aus Iraklio stammt, den Weiler Anfang der 1970er Jahre entdeckte, war er schockiert. Nur noch eine Handvoll Alter lebte hier. Er konnte die Jungen verstehen, es gab weder Strom noch Telefon. Er selbst war ja auch weggegangen, obwohl er in der Stadt aufwuchs. Zuerst nach Athen zum Studieren, dann nach Paris in ein Architekturbüro. Die Sommer verbrachte er jedoch stets auf Kreta. Und bei diesen Heimaturlauben reifte in ihm ein verwegener Plan: Er wird das Geisterdorf als Hotel wiederaufbauen, ganz der Tradition verpflichtet, seinen ursprünglichen Charme bewahrend.

Anfangs lief es gut.

1976 erwarb er die erste Ruine für wenig Geld.

„Ein kritischer Punkt war erreicht, als ich die Olivenmühle kaufen wollte“, erinnert er sich. „Denn dafür war das ,Ja‘ der Abtei notwendig, weil das Land dem Bischof gehörte.“ Allmählich wurden die verbliebenen Bewohner neugierig. Sie spürten, dass ihr Besitz vielleicht doch nicht so wertlos ist, wie sie gedacht hatten. Immer öfter bekam Toupoyannis zu hören: „Wir verkaufen nicht an einen Fremden.“ Zu Verhandlungen nahm er jetzt seine Mutter mit, die ganz in der Nähe aufgewachsen war. Den beiden gelang es in vielen therapeutischen Sitzungen, die meisten Dörfler davon zu überzeugen, dass hier kein großer Hotelkomplex entstehen soll.

Der Architekt ließ sich danach mit seiner Vision viel Zeit.

Nichts erinnert an von Tourismuskonzernen geplante „HotelDörfer“ wie das „Toscana Resort Castelfalfi“ von TUI (1.600 Betten!). Am ehesten vergleichbar ist Kapsaliana mit „Pedralva“ an der Algarve, wo Familien aus Lissabon ein verlassenes Dorf übernahmen und 24 Häuser für Touristen herrichteten, Geschäfte und Lokale eröffneten. Oder mit „Castelnau des Fieumarcon“, einem Weiler in der Gascogne, dessen 17 Häuser stilvoll saniert wurden.

„Nun hatte ich das Land,

aber nicht das Geld, um es zu bebauen“, lacht Toupoyannis.

Als er sein reanimiertes Dorf mit 21 Wohneinheiten, davon 17 in den alten Steinhäusern, im Juni 2008 endlich eröffnete, versank Griechenland gerade in der tiefsten Wirtschaftskrise der Geschichte. Kein gutes Timing. Die Gäste kamen dennoch, denn der Architekt hat vieles richtig gemacht. Man spürt, wie vorsichtig das Dörfchen wiederbeatmet wurde. Die Zypressen umrahmen wie dunkelgrüne Skulpturen den kleinen Friedhof, auf dem die letzten Bewohner des Dorfes ruhen. Die kleine Kapelle daneben hat Toupoyannis behutsam restauriert. In einem dunklen Gewölbe, in dem früher Oliven verarbeitet wurden, finden heute Öl- und Weinproben statt. Die Schraubenpresse, der Mahlstein und das Steinbecken von damals stehen immer noch an ihrem angestammten Platz. Eigentlich ist nur der Pool ein Zugeständnis an die neuen Zeiten.

Der Dorf-Herr ist geschieden, hat eine Tochter, Mitte 20, von der er hofft, dass sie mal die Nachfolge antritt. Endlos weiter wachsen soll sein Weiler nicht. „50 Menschen haben hier einmal gewohnt“, sagt er. „Und deshalb sollen es auch nicht mehr als 50 Gäste werden.“ Derzeit baut er die Ruine mit dem grandiosen Meerblick unterhalb der Kapelle um. Seine Handwerker, die nur in den vier Wintermonaten so richtig loslegen können, um die Touristen nicht zu stören, reißen dabei nichts ab, walzen nichts glatt und eben. Sie bauen lediglich auf, hier und da ein bisschen an und um. Von Abt Gabriel hat Toupoyannis mehrere Hektar angrenzendes Land gekauft. Er will dort einen großen Wildgarten mit Obstbäumen anlegen, in dem die Gäste lustwandeln können.

Ach ja, die Gäste.

Man sieht sie selten.

Und wenn, dann kommt über ein höfliches Grüßen hinaus kaum ein Gespräch zustande. Abends sitzen die Paare an Zweier-Tischen. Nur dort, wo mehrere Generationen miteinander verreist sind, geht es geselliger zu. Das Leben im nur zwei Kilometer entfernten Amnátos, einem echten Dorf mit echten Griechen, sieht anders aus, ist vor allem deutlich lauter. Dort gibt es eine Taverne, eine Bar, Klatsch und Tratsch. Kapsaliana dagegen lullt ein. Die Luft duftet nach Urlaub. Nach Nichtstun und Sonnenbaden.

Komische Gedanken

schwirren einem durch den Kopf, wenn man hier so tiefenentspannt vor sich hin urlaubt.

Wie die Bewohner von einst wohl die Landschaft wahrnahmen? Hatten Sie einen Blick für die Würde der knorrigen Olivenbäume? Oder sahen sie nur die Mühsal? Die Plackerei bei der Oliven-Ernte? Touristen neigen dazu, das Alte zu verklären. Aber was aus der Ferne pittoresk aussieht, ist aus der Nähe oft nur kaputt. Und ist es nicht ein bisschen heuchlerisch, von den Griechen zu verlangen, ihre mediterrane Kulturlandschaft bloß nicht mit Gewerbegebieten zu verschandeln? Hellenen, die IT-Firmen aufbauen anstatt nur kalt gepresstes Olivenöl zu exportieren, sind dem Reisenden suspekt. Nur: Wie sollen die Kreter dann das Bruttosozialprodukt steigern, um es den deutschen Sparfüchsen recht zu machen?

Am Ende

… sind auch die Bewohner von Kapsaliana Touristen.

Nur fühlen sie sich eben ein bisschen besser als diejenigen in den Massenquartieren, weil sie sich individualistisch geben und das Authentische suchen. Aber was genau ist denn authentisch? Oldtimer in Havanna? Kapsaliana? Das „richtige“ Nachbar-Dorf Amnátos? Am Ende ist, wie so oft, vieles Geschmackssache. Im Kapsaliana gibt es Gäste, die es „unauthentisch“ finden, dass Chefkoch Vasilis Leonidou nicht einfach mal Tsatsiki und Gyros auf die Karte setzt. Andere dagegen loben ihn dafür, dass er die griechische Bauernküche „auf ein neues Niveau hebt“. Na dann: Bon appétit!

Anreise

Von deutschen Flughäfen nach Iraklio oder Chania und weiter mit dem Mietwagen (ca. 85 km, 1,5 Std.) zum Kapsaliana Village Hotel

Website des Hotel-Dorfes

www.kapsalianavillage.gr (DZ/F ab 160 Euro pro Nacht)

Medien

Eberhard Fohrer: „Kreta“, Michael Müller Verlag
Rolf Goetz: „Kreta – Die schönsten Küsten- und Bergwanderungen“, Rother Wanderführer
Matthias Politycki: „Schrecklich schön und weit und wild: Warum wir reisen und was wir dabei denken“, Hoffmann und Campe