Viel mehr als ein Dach über dem Kopf

Jutta Speidel über ihr Projekt HORIZONT

„Mann, ist die Frau zäh!“, so beginnt der Alt-Oberbürgermeister Christian Ude das Vorwort zur Broschüre „20 Jahre HORIZONT – Geborgenheit und Perspektive“. Und mit „die Frau“ ist natürlich die beliebte Schauspielerin Jutta Speidel gemeint, die Gründerin dieses erfolgreichen Projekts, das Müttern und ihren Kindern, die aus den unterschiedlichsten Gründen in Not geraten sind, nicht nur ein Dach über dem Kopf gibt, sondern auch einen Ort, an dem sie Sicherheit, Gemeinschaft und Förderung finden, um irgendwann wieder fit zu sein für ein „normales“ Leben. Das Gespräch mit Jutta Speidel ist manchmal erschütternd, zeigt aber vor allem, was man mit viel Herz und eben Zähigkeit – und Unterstützung – erreichen kann.

Eine Frage, die Ihnen sicher schon tausendmal gestellt wurde, die aber einfach dazu gehört: Wie hat alles angefangen?

Ich habe schon immer sozial gearbeitet und für viele große Einrichtungen regelmäßig sehr engagiert Geld gesammelt. Aber es kam nie wirklich ein Feedback dazu, was denn nun konkret mit dem Geld passierte. Das war ein bisschen frustrierend. Denn es wäre mir ja gar nicht um ein großes Danke gegangen, sondern einfach darum, dass ich sehen wollte, ob ich mich sinnvoll engagiere. Und dann habe ich zufällig in der ersten Ausgabe der Obdachlosenzeitung „Biss“ einen Artikel über obdachlose Kinder in München gelesen – und war völlig platt, dass es so etwas gibt. Damals hat kein Mensch darüber gesprochen.

Tatsächlich sieht man ja auch keine obdachlosen Kinder auf der Straße?

Oh nein, aber es gibt sie immer noch. Denn nur, weil sie irgendwo untergebracht sind, haben sie ja immer noch kein Zuhause. Ich habe damals zwei Jahre recherchiert und musste feststellen, unter welch armseligen Bedingungen die Betroffenen leben mussten. Ich war so entsetzt, wie sich Deutschland bei diesem Thema für mich dargestellt hat. Dann habe ich HORIZONT gegründet.

Hat sich durch Ihr Engagement hier in München auch in Gesamt-Deutschland etwas getan?

Eigentlich ist es ja eine der Aufgaben des ASD (Allgemeiner Sozialer Dienst) in den Kommunen, sich dieser Kinder und ihrer geeigneten Unterbringung anzunehmen. Das wurde früher tatsächlich sehr vernachlässigt. Sicherlich hat auch mein Engagement und dass ich meine Popularität dafür genutzt habe, an die Öffentlichkeit zu gehen, die Situation verbessert. Außerdem haben viele das ausgeklügelte System, das wir über die Jahre entwickelt haben, sehr genau beobachtet und dann in anderen Städten „abgekupfert“. Und das finde ich schön und großartig!

Es ist mir klar, dass es auch im reichen München arme Menschen gibt, aber gerade Frauen und Kinder! Vielleicht ist das etwas naiv gefragt, aber wie kommt es, dass sie auf der Straße stehen?

98 Prozent unserer HORIZONT-Frauen sind von Gewalt bedroht. Sie sind schlicht und ergreifend auf der Flucht vor ihren prügelnden Partnern und das geht durch alle Nationen und alle Schichten. Glauben Sie nicht, dass eine Professorengattin nicht auch schon mit ihren Kindern bei uns war. Das kann ganz schnell passieren Wir haben auch Spenderinnen, die wir kennenlernen und die uns dann unter vorgehaltener Hand sagen: „Wissen Sie ich unterstütze Sie, weil ich selbst mal in der Situation war.“

Irgendwie möchte man gerne glauben, dass es das Thema „Gewalt in der Familie“ bei uns nicht mehr gibt.

Das sind Strukturen, die immer in der Familie drin sind, im Patriarchat. Natürlich sind da oft Frauen mit Migrationshintergrund betroffen. Aber auch bei uns ist es ja nicht so lange her, dass das Patriarchat herrschte, noch nicht mal 100 Jahre. Da ist es doch nicht so schwer, sich vorzustellen, dass in vielen Familien das Selbstbewusstsein von Frauen immer weggedrückt wurde, schon als Mädchen. Und oft suchen sich solche Mädchen komischerweise ja genau wieder so einen Typ Mann, mit dem sie dann Kinder haben. Das ist ein Kreislauf, ähnlich wie die Co-Abhängigkeit bei Drogensüchtigen.

Gelingt es den Frauen in Ihrem Haus aus diesem Kreislauf auszubrechen?

Ja natürlich, auf dieses Ziel sind ja alle Ebenen unserer ganzheitlichen Arbeit hin ausgerichtet. Aber meistens ist es ein weiter Weg. Und manchmal erleben wir es auch, dass der Schutzraum freiwillig durchbrochen wird und die Frauen doch wieder Kontakt zum Partner aufnehmen – weil die Kinder sie unter Druck setzen, weil die Kinder traurig sind, weil sie den Papa nicht sehen, obwohl sie vielleicht selbst verprügelt worden sind.

Oft sind es ja solche Rückschläge, die engagierte Menschen aufgeben lassen. Wie haben Sie es geschafft durchzuhalten?

Ich bin die Managerin, die Frontfrau des Ganzen im Außendienst. Ich bin keine Sozialpädagogin und ich nehme diese Geschichten nicht mit nach Hause. Das war in den ersten Jahren natürlich etwas anders. Damals habe ich gedacht, ich müsse für alle verantwortlich sein. Mein Team war eben noch klein, neben mir eine Sozialpädagogin, eine Erzieherin und eine Frau fürs Büro. Da haben wir natürlich über die Fälle geredet und uns damit quasi selbst hineinbegeben. Aber ich habe sehr schnell gemerkt, dass ich das von meiner Empathie her nicht kann. Und wenn mir der Abstand fehlt, dann tue ich mir selbst keinen Gefallen, aber vor allem auch den anderen nicht.

Wie viele Menschen arbeiten denn bei HORIZONT?

Tja, aus dem „Hausfrauenverein“ ist inzwischen ein etwa 40-köpfiges Team entstanden, und deswegen funktioniert das alles auch so gut. Das bedeutet aber auch, dass wir mittlerweile quasi ein mittelständischer „Betrieb“ sind und dass ein entsprechender Kostenaufwand anfällt. Die gesamte Organisation steht auf ein paar Säulen und das sind meine Vorstände und die Leiter der jeweiligen Abteilungen. Da finden auch ständig Meetings statt, gerade gestern saßen wir wieder sechs Stunden für ein Strategie-Meeting zusammen. Wir haben auch eine wirklich tolle Geschäftsstelle, die es überhaupt erst möglich macht, dass wir diesen Verein am Leben erhalten.

Oft werden ja festangestellte Mitarbeiter eines karitativen Unternehmens skeptisch beurteilt, weil die Menschen das Gefühl haben, sie spenden für die Gehälter der Mitarbeiter.

Das ist doch Quatsch! Auf den Mitarbeitern basiert ja der gesamte Erfolg der Arbeit. Für was sind denn diese Gehälter da? Sie sorgen dafür, dass ich die richtigen Menschen zur Seite habe, die sich hochprofessionell für die Betroffenen einsetzen können und dafür, dass der Laden läuft. Der würde nämlich nicht schon seit 22 Jahren funktionieren, wenn wir nicht so professionell wären. Das kann man doch nicht mit Ehrenamtlichen machen!

Arbeiten Sie denn auch mit Ehrenamtlichen?

Ja natürlich, aber diese Ehrenamtlichen müssen auch Feuer und Flamme für unsere Sache sein. Denn wenn sie sich einmal engagieren, müssen wir uns und müssen sich vor allem unsere Bewohner auf sie verlassen können. Wir hatten gerade wieder drei Damen bei uns, die waren völlig begeistert und voller Ideen – und nachdem sie dann das erste Mal bei uns waren, kam eine Absage-Mail. Sie hatten festgestellt, dass sie eine Dreiviertelstunde bis zu uns brauchten und das ginge natürlich nicht ... Also wenn das schon ein zu großer Aufwand ist, dann ist es mit dem Ehrenamt nicht so weit her. Deswegen ist Ehrenamt für Organisationen wie HORIZONT manchmal schwer zu handhaben – aber nichtsdestotrotz eine großartige Sache und eine wichtige Säule der Gesellschaft.

Kommen wir konkret zur Hilfe, die Sie den Frauen und Kindern geben. Ein ganz wichtiger Aspekt ist dabei der ganzheitliche Ansatz.

Die Ganzheitlichkeit zielt darauf ab, dass wir möglichst alle Aspekte auf dem Weg zur Selbstbestimmtheit und nachhaltigen Verortung in die Gesellschaft abdecken können. Fangen wir bei der Basis an, unserer geschützten Einrichtung. Dorthin kommen Menschen in allerhöchster Not, viele mit Traumata, egal welcher Couleur, ob sie fliehen mussten vor ihrem Partner oder aus anderen Ländern und der Mann vor ihren Augen gesteinigt wurde. Es gibt leider nichts, was es nicht gibt. Bei jeder unserer Klientinnen müssen wir sehr behutsam einen Zugang finden, schauen, wie man ihr das Vertrauen gibt, uns etwas zu erzählen, sehen, wo die Not am allergrößten ist und wie und bei welchen Punkten man sofort praktisch handeln kann.

Was sind das für Punkte?

Zunächst sind das zum Beispiel die Absprachen mit Kindergärten, Schulen, dem Wohnungsamt, Ärzten, eventuell Psychologen. Kleidung und Essen. Es geht auch darum herauszufinden, ob sie schon Sozialhilfe bekommen oder man von vorne anfangen muss. Sind diese Dinge geregelt, ist es ganz wichtig, Gespräche zu führen. Gibt es zum Beispiel gesundheitliche oder psychische Probleme, die behandelt werden müssen.

Entsteht zwischen den Frauen denn auch eine Gemeinschaft?

Das ist sogar ganz wichtig und ergibt sich dadurch, dass die Frauen miteinander reden – auch wenn sie oft erstmal irgendeine Sprache finden müssen, in der sie kommunizieren, denn wir sind sehr multinational. Durch das Gespräch miteinander also lernen sie auch, dass sie mit ihrem Problem nicht alleine sind, wenn auch in individueller Ausprägung. Und diese Erkenntnis ist ein Punkt, der zum Heilungsprozess dazugehört: das Gefühl zu bekommen, nicht mehr alleine und verloren zu sein, sondern aufgehoben in einer Gemeinschaft, in der auch Tag und Nacht ein Ansprechpartner da ist. Denn wir haben rund um die Uhr mindestens eine Sozialpädagogin im Haus.

Aber Sie helfen auch bei Formalitäten, bei der Jobsuche, die Kinder erhalten Hausaufgabenhilfe und die Mütter Deutschunterricht.

Es gibt eine eigene Kita und ganz unterschiedliche Therapieangebote für die Mütter und die Kinder. Wie lange bleiben die Frauen denn im Durchschnitt im Haus?

So nach eineinhalb oder zwei Jahren kommt der Punkt, an dem wir und sie feststellen, dass es ihnen jetzt (wieder) so gut geht, dass wir mit der Wohnungssuche beginnen. Und das ist oft ein kritischer Punkt. Denn was Wohnungssuche in München bedeutet, muss ich Ihnen nicht sagen. Und das ist eine Zeit, in der die Mütter sehr gefährdet sind, wieder abzurutschen.

Weil Sie sich entmutigt fühlen?

Sie haben sich so viel Mühe gegeben, und dann werden sie so enttäuscht, weil sie ohne Wohnung eben gar nichts von dem umsetzen können, was sie bei uns gelernt haben.

Und so haben Sie das zweite Haus im Domagkpark gebaut?

Ja. Hier wird das selbstständige Leben als Familie umgesetzt. Das, was sie im ersten, unserem Schutz-Haus, gelernt haben, ist ihre Basis. So sind die 48 öffentlich geförderten Wohnungen hier einerseits eine Brücke für Familien aus dem geschützten Haus, andererseits auch offen für andere bedürftige Familien, die hier dauerhaften und bezahlbaren Wohnraum finden.

Dieses Haus ist kein Schutzraum, dessen Adresse man nicht kennt, sondern soll aktiv die nachhaltige Integration und Teilhabe der Bewohner am gesellschaftlichen Leben fördern. Wie machen Sie das?

Dieser Aspekt ist uns ganz wichtig. Deswegen gibt es dort viele soziokulturelle Angebote, die allen Nachbarn und Interessierten offenstehen. Damit fördern wir aktiv die Vernetzung. Alle können einen Platz in unserer KITA buchen, gemeinsam mit unseren Bewohnern in den Werkstätten werkeln oder einen Theater-Workshop belegen. Ein ganz großer Punkt ist auch hier die Bildung – und zwar nicht nur im schulischen, sondern auch im gesellschaftspolitischen Bereich. Wir machen Eltern fit, Eltern zu sein, zum Beispiel im Bereich friedliche Kommunikation. Und wir wollen, dass diese Kinder auch so banale Dinge wie Tischmanieren lernen und ganz allgemein erleben, wie man höflich mit anderen umgeht.   Unsere Familien haben hier die Möglichkeit, sich aktiv einzubringen. Sie sind beispielsweise mitbeteiligt daran, den Garten zu schaffen. Wir werden eine Baumhausstadt bauen, wir werden in der Keramikwerkstätte auch kleine Mosaike machen und damit einen Brunnen selbst gestalten. Sie werden Obst von den Bäumen und Sträuchern pflücken und Marmelade oder Kuchen daraus machen. Wir werden ihnen all das weitergeben, was unsere Großväter und Mütter uns beigebracht haben – also meine zumindest –, und so auch unsere Werte und das Lebenswerte daran vermitteln.

Das ist ein leidenschaftliches Plädoyer!

Ohne Leidenschaft gäbe es dieses Projekt ebenfalls schon lange nicht mehr. Es geht hier nicht nur um finanzielle Hilfe und Wohnraum. Uns ist es wichtig, unseren Bewohnern auch Achtung zu vermitteln – Achtung vor der Natur, Achtung und Respekt vor anderen Menschen und vor sich selbst. Das ist, glaube ich, genau der Punkt, der übrigens in allen Schulen und Kindergärten und in jedem privaten Haushalt gefördert werden muss. Dann haben wir eine Chance, diese Welt wieder zu einer friedlicheren Welt zu machen.

Integration – nicht nur interkulturell, sondern auch innerhalb der verschiedenen Strömungen einer Gesellschaft – kann sicherlich nur mit genau diesem Respekt gelingen. Aber ist denn HORIZONT da nicht nur ein Tropfen auf dem heißen Stein?

Jeder Tropfen wirkt ja ein bisschen mehr. Und wenn wir hier nur einen Teil der Menschen wirklich erreichen, werden sie diesen Tropfen auch weitertragen in die Welt und in die nächste Generation. Gerade Kinder und Jugendliche, die hier erleben und merken, dass ein friedvoller Umgang für sie von Vorteil ist, können wichtige Weichen für sich und für andere stellen.

Man könnte mit Jutta Speidel auch noch sehr lange weiterreden, über all diese Themen und natürlich über HORIZONT. Aber eigentlich wäre ihr lieber, dass man sich vielleicht dazu entschließen kann, finanziell ein wenig mitzuhelfen, oder sich vor Ort im Domagkpark einmal ansieht, was dort entstanden ist und noch weiterwächst.

Dazu gibt es übrigens auch zwei genussvolle beziehungsweise unterhaltsame Möglichkeiten: Zum HORIZONT-Haus „Domagkpark“ gehört auch die Kulturbühne „Spagat“ mit einem sehr abwechslungsreichen Programm und das Restaurant „MaxiMahl“, in dem unter anderem drei Bewohnerinnen aus dem HORIZONT-Haus arbeiten.